Der Hartberger Karner wurde in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts mit Schildbacher Muschelkalkquadern erbaut als zweigeschossiger Rundbau, an dem im Osten eine Dreiviertelapsis ansetzt. Das Untergeschoß diente als Beinhaus, das Obergeschoß wurde als Taufkapelle errichtet, deren Wasserabfluß außen an der Südseite noch sichtbar ist. Die Außenwand ist durch neun vorspringende Säulenbündel und zwei umgebene Rundbogenfriese gegliedert.
Die romanischen Fresken im Inneren stammen aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts. Sie waren lange Zeit mit Kalk übertüncht. 1894 legte der Wiener Restaurator Theophil Melicher die Fresken wieder frei. Beim mittleren Apostel zwischen dem südwestlichen Fenster und dem Wolf ist der romanische Originalzustand sichtbar. Melicher hat die romanischen Fresken behutsam aufgefrischt. In der Kuppel war leider keine originale Substanz erhalten. Die Cherubim und Serafin, die vier Evangelisten mit den dazugehörigen Tiersymbolen und die Geisttaube stammen aus der Hand Melichers.
Königliche Reiter sitzen auf verschiedenen Tieren wie Löwe, Kamel, Pferd, Drache, Walfisch, Ochs und Schwein und üben mit ihren Händen herrschaftliche Macht aus. Bäume und Sträucher erfüllen die restlichen Wandflächen.
Die Tiere mit ihren Reitern wurden sehr unterschiedlich gedeutet z. B. als vier Weltreiche oder als sieben Hauptsünden. Für mich stellen die Tiere, Sträucher und Bäume vitale Lebenskräfte dar, die im menschlichen Untergrund schlummern und jederzeit erwachen können wie z. B. Temperament, Sexualität, Aggression, Machtstreben ... Diese Vitalität gilt es zu zügeln und zu beherrschen.
Doch eine Taube mit einem Zweig im Schnabel neben dem Eingang zur Dachbodenstiege verweist auf eine neue Möglichkeit: Sie erinnert an einen hoffnungsvollen Neubeginn mit Noah nach der Sintflut.
Dieser Neubeginn wird in der Apsis sichtbar. Dort ist aus dem Reis ein krummer Baum gewachsen, der dem Licht in der Mitte zuwächst. Die Wurzel wurde leider durch einen Fensterausbruch zerstört. Viele menschliche Knospen hat der Baum angesetzt. In der Mitte: König David und Salomon und die vier großen Propheten, außen je sechs kleine Propheten. Ihre Spruchbänder sind leer. Doch es sprechen ihre Hände, indem sie auf die Mitte des Baumes verweisen. Dort entfaltet sich eine mandelförmige Blüte als Gottesmutter und Königin Maria, in deren Mitte Jesus Christus als Frucht sichtbar wird. Die Baumkrone ist bewohnt von den sieben Gaben des Hl. Geistes, wobei eine bereits dem Betrachter zufliegt.
Unter dem Baum sehen wir Bischof Ulrich, den Patron der Taufkapelle mit zwei Katechumenen, die um die Taufe bitten. Auf der anderen Seite des Baumes ist ein Ritter oder Gideon oder der Soldat Martin, der Pfarrpatron von Hartberg. Die beiden Gestalten nebenan sammeln Manna. In der Mitte stürzt der Erzengel Michael den Baum. Ihm ist der Karner geweiht. Über dem Wurzelstock sehen wir Bileam, der das Volk Israel verfluchen sollte. Da stellte sich ihm ein Engel in den Weg und er konnte nur noch segnen.
Wer zu Christus gefunden hat und getauft ist, der gehört zum Kreis der Apostel, zur Kirche, deren Mitte Jesus Christus ist. Christus sitzt als Herrscher da wie die Reiter im unteren Fries. Anstelle des Herrscherstabes geht von seiner Rechten Segen aus. Bei Christus und den Aposteln wird etwas spürbar, was den Reitern fehlt: Ihr Dasein ist von Gott erhellt, was mit dem Nimbus, dem Heiligenschein, angedeutet wird. Bei den Aposteln sind die vitalen Kräfte erhellt und ins Menschsein integriert. Das schafft neue Lebensmöglichkeiten. Die Apostel können auf eigenen Füßen aufrecht stehen und gehen. Sie selbst sind die Botschaft, die zu uns unterwegs ist. Doch wer die Gemeinschaft mit Christus verläßt, den finsteren Kräften nie widersagt, wer sich aus der christlichen Gemeinschaft entfernt, dem kann das zustoßen, was über der Ausgangstür dargestellt ist: Der wird zur leichten Beute für Verführer wie das Lamm für den Wolf. Oder vitale Kräfte werden so stark, sodaß sie nicht mehr beherrscht werden können und in folge alles Menschliche verschlingen. Dies wird an den Gestalten wie Judas, Adam und Eva sichtbar. Die Fresken in der Taufkapelle sind Einladung, ins Christsein hineinzuwachsen. Sie nehmen die natürliche Vitalität wahr, veredeln sie vom wildwachsenden Gebüsch zum Jessebaum, bei dem in der menschlichen Marienblüte die göttliche Jesusfrucht heranwächst. So wächst menschliche Gemeinschaft, Kirche, in der Christus als Segen und Licht erfahrbar wird.
Mag. Engelbert Schmied